5. Januar 2019

KI: gestaltbare Zukunft

 


Die Behauptung, dass lernfähige Bit und Bytes das menschliche Gehirn überflügeln, nennt Chris Boos schlicht Marketing. Denn künstlicher Intelligenz fehle jeder biochemische Prozess, sie empfinde nicht. KI „denkt“ ausschließlich regelkonform – doch Kreativität wachse aus dem Regelbruch, sagt Boos.

Und doch ändert KI radikal nahezu jeden unserer Lebensbereiche. Allen voran stehe der Markt, ein Datenkapitalismus, den es gesellschaftlich nutzbringend zu formen gelte, so Viktor Mayer-Schönberger. Und erinnert daran, dass Zukunft nicht verhinderbar, wohl aber gestaltbar sei.

Boos und Mayer-Schönberger zählen zum Digitalrat der Bundesregierung. Ihre Thesen zur Künstlichen Intelligenz koppelte das Plenum beim Machine Learning Workshop mit Praxiserfahrungen von Adobe, der DATEV, dem Versandkonzern Otto, Google und Vodafone.


Geschäftsmodell: Datenreichtum

Mayer-Schönberger ist Professor für Internet Governance and Regulation am Oxford Internet Institute. Er erklärt den grundlegenden Umbruch einen „datenreichen Markt“: Traditionell gelte der Preis als Kaufanreiz. Stimmen Wunsch und Ware überein, wird er zweitrangig. Datenbasierte, KI-getriebene Entscheidungsassistenten matchen daher Kundenwunsch und Angebot. Alleine mit Empfehlungen generiere Amazon so rund 30 Prozent seines Umsatzes.

Den nötigen Datenschatz für dieses Marktmodell haben nur Unternehmen wie Google, Apple, Facebook und Amazon, kurz GAFA, sowie Alibaba und Co. Für die Produzenten schrumpfe der Konsumentenmarkt auf wenige Vermittler. Solche Konzentration sei kein Nachteil, eine lebenslange Kundschaft gelte es beidseitig sorgsam zu pflegen, vermittelt der Experte.

Digitalrat in der Bundesregierung: Viktor Mayer-Schönberger



Zukunft ist gestaltbar

Handel und Arbeitswelt ändern sich durch KI grundlegend, erläutert Mayer-Schönberger. In den USA gelte eine Arbeit als Trucker oft als Traumjob, dem stehe eindeutig die Entwicklung selbststeuernder Fahrzeuge entgegen. KI werde langfristig traditionelle Arbeit ersetzen und das sei eine Chance.

Das klassische Angestellten-Modell könne durch „Unbundling“-Formate ersetzt werden: Nur einen Teil des Alltags nutze man, um Geld zu verdienen, den anderen Teil seiner Zeit investiere man in eine Aufgabe, die einem persönlich wichtig erscheint. Dafür müsste sich aber das grundlegende Verständnis von Arbeit und Entgelt ändern. Mayer-Schönberger stellt klar: „Die Zukunft ist nicht verhinderbar, doch sie ist gestaltungsfähig.“

Buchtip: “Das Digital”, Thomas Ramge, Viktor Mayer-Schönberger


Revolution statt Evolution

„Money believes in Technology“, sagt Chris Boos. Während von traditionellen Konzernen Gewinne aus der laufenden Produktion erwartet würden, könnten die globalen Tech-Giganten mit ihrem Kapital grundlegende Probleme aggressiv angehen. Beispiel Mobility: Lediglich zwei Prozent seines Lebenszyklus sei ein privater Pkw in Bewegung. Aus der Ressource Stillstand ließe sich die Produktivität von Transport und Logistik um das 15-Fache steigern – ein Wirtschaftseffekt, als erfinde man die Dampfmaschine neu, so Boos.

Boos relativiert auch KI-Irrtümer: KI fehle Gefühl und Kreativität. Weder „verstehen“ Maschinen, noch hätten sie ein Gehirn. „KI kann lediglich Prozess“, Machine Learning fuße auf vergleichenden Mustern, bilanziert Boos, der 1995 den KI-Pionier Arago gründete.

Die Herausforderung bestehe darin, Erfahrungen mit Daten zu verknüpfen und daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen – eine Ökonomie der Skalierbarkeit. Der Schwund traditioneller Arbeit sei dabei eine Chance, um Menschen mehr Raum für Kreativität zu geben, Tüftler und Denker zu fördern sowie den Pioniergeist zu stärken.

Digitalrat in der Bundesregierung: Chris Boos

Arago


Der Maschinenversteher

Dr. Ramin Assadollahi gilt als „Maschinenversteher“. Er entwickelte die sogenannte „Nächstes-Wort-Vorhersage“ – rund 100 Millionen Smartphones sind heute damit ausgestattet. Das „Verstehen“ der Maschinen hat sein Unternehmen ExB Labs stetig weiterentwickelt: Maschinenlesbare Dokumente lassen sich via KI analysieren, ordnen und zusammenfassen; Korrespondenz lässt sich automatisiert erledigen.

Die Maschine ist durchaus im Vorteil: Sie kann enormes Wissen im Sinne von Regeln oder Neuerungen schnell erfassen und verarbeiten, beispielsweise Gesetze, Vorgaben oder wissenschaftliche Erkenntnisse. Zudem verdeutlicht Assadollahi, dass für ungenutzte Informationen neue Möglichkeiten entstehen. So sei jedes Bauteil in Fahrzeugen detailliert mit seinen Eigenschaften, Toleranzen, Ausfallkonsequenzen und Störumfeld beschrieben. Doch für die Werkstattanalyse „von Innen“ fehlten die Daten, verdeutlicht Assadollahi den KI-Ansatz.

Handelsblatt: Der Maschinenversteher ›

ExB Labs 


Grenzerfahrung mit KI

Aus der Praxis kennt Prof. Andreas Both, Head of Research bei DATEV eG, die enormen Umwälzungen, die eine Kombination von maschinenlesbaren Dokumenten und KI mit sich bringt: Belege lassen sich bereits nach Vorgabe automatisiert einsortieren und bearbeiten. Letztendlich unterliege jede Steuererklärung einem umfangreichen Regelwerk. Und das sei ideal für KI-Strukturen.

Doch Both kennt auch die Hürden. Für die automatisierte Verarbeitung müsse die Maschine an Daten lernen, doch sensible Kundendaten unterlägen strengsten Datenschutzrichtlinien. Und eine passende Infrastruktur stehe keineswegs immer zur Verfügung.

Datev eG

Prof. Andreas Both


Serviceassistent AI

Ein Paradebeispiel für Machine Learning zeigt Dr. Timo Christophersen, Leiter des Bereichs Data Science bei OTTO. Noch hat der letzte gedruckte Katalog Gültigkeit, doch die Otto-Zukunft ist digital. Im Angebot von 2,8 Millionen Produkten heißt das vor allem Service: Anhand fotografischer Metadaten bietet Otto eine Rundum-Perspektive im digitalen Umfeld und ergänzt die Kundenwahl um Produktvorschläge. Intern hilft die Datenanalyse, um Kaufverhalten und Nachfrage zu optimieren.

Otto entwickelt zudem mit Hilfe von KI einen neuen Service: Fotografiert man einen coolen Look auf der Straße, kann man das Bild in einer App hochladen. Die KI zerlegt das Motiv in die einzelnen Kleidungsstücke und offeriert Modebeispiele aus dem eigenen Produktnetzwerk.

Ottogroup

W&V: Von Keks bis Algorithmen


Aus KI wächst Kreativität

Hartmut König, CTO bei Adobe Europe, sieht KI als wichtige Unterstützung im Dialog mit Kunden. Alleine der Black Friday habe bei Adobe zu über 39 Milliarden Analysedaten geführt – diese schiere Datenmasse braucht Big Data Analytics.

KI habe einen anderen Ansatz: Eine funktionale künstliche Intelligenz automatisiert die persönliche Ansprache mit für den Kunden passenden Erlebnisbildwelten. Ob Bildmotiv oder Betreffzeile bei der E-Mail-Ansprache – die Kampagne wird persönlicher. Alles kann gemessen, angepasst und individualisiert werden.

Im Kreativsegment werden KI-Elemente klar als Bereicherung verstanden. Bildwelten lassen sich schneller finden, Werbevarianten flink aufbauen, zielgruppentypische Reaktionen detailliert erfassen. Zugleich schrumpft der Aufwand für Analyse und Sucharbeit: Kreativität gewinnt Raum.

Hartmut König


Immer und überall: KI

Für Google ist KI keine technische Entwicklung, sie gilt als Teil der Unternehmens-DNA –„Fortschritt für alle“ lautet das zugehörige Motto. Ausnahmslos jeder Mitarbeiter muss Grundlagen der KI erlernen, berichtet Marianne Stroehmann, Industry Director & Site Lead Google Hamburg, Google Germany GmbH.

Google KI ist in Sachen Machine Learning breit gefächert: Die Palette reiche von Hard- über Software, eine Open Source Machine Learning Bibliothek bis hin zum Einstiegs-Kit als offenes Projekt, berichtet Alexander Del Toro Barba, Engineering Specialist Machine Learning, Google Cloud EMEA.

Pilotprojekte sind kreativ, etwa wenn die Lebensweise von Kühen auf einer niederländischen Milchfarm getrackt wird: Bewegung, Ruhezeiten, Fressverhalten, Wegstrecken – alles lässt sich via KI auswerten, um Idealzustände für das Vieh und den Ertrag zu gestalten. Und das ist nur einer der vielen kreativen Ansätze.

AI bei Google ›

Werkzeuge für AI


Per AI zum günstigsten Optimum

Bei der Entwicklung der Datennetze nutze Vodafone AI zur Netzplanung, schildert Frank Meisgen, Head of Big Data Technology, Vodafone Deutschland. Mittels Algorithmus lassen sich für Industriegebiete Datenbedarf, Aufwand und Kosten vergleichen.

Was im Kleinen noch überschaubar wirkt, ist als Berechnung für die Gesamtentwicklung eines ganzen Landes schier unlösbar. Hier hilft der Algorithmus. Ziel sei es, mit minimiertem Kostenaufwand ein Mehr an Anbindung zu erhalten sowie möglichst günstig und zielgerichtet Datenlösungen für die Industrie zu gestalten, so der Datenexperte.

Dialogreihe AI bei Vodafone